Positionspapier der Gesellschaft für Phytotherapie zur Abgrenzung von pflanzlichen Arzneimitteln und Nahrungsergänzungsmitteln

Detmar Jobst (1), Andreas Hensel (2), Karin Kraft (3)

(1) Rhein. Friedrich-Wilhelm-Universität Bonn, Lehrauftrag für Naturheilverfahren, Bonn
(2) Universität Münster, Institut für Pharmazeutische Biologie und Phytochemie
(3) Universitätsmedizin Rostock, Lehrstuhl für Naturheilkunde

1. Die Gesellschaft für Phytotherapie (GPT) plädiert für eine klare Abgrenzung der Nahrungsergänzungsmittel von Arzneimitteln

Nahrungsergänzungsmittel (NEM (a)) hatten 2019 in Deutschland ein Marktvolumen von über 2 Milliarden Euro. Ihr Umsatz steigerte sich in Deutschland in der Vergangen- heit jährlich um ca. 5,8 %, zuletzt sogar um 7,2 % [23]. NEM sind also ökonomisch erfolgreich – nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa. Ein Nutzen für Verbraucher (b) ist allerdings keineswegs immer vorhanden. NEM können in vielen Fällen Risiken bergen, z. B. durch mangelnde Qualität und falsche Deklaration [1, 21, 25]. Ihre Anwendungssicherheit wird nicht selten zusätzlich vermindert durch irreführende Werbung [4, 24, 26]. Dies gilt besonders für diejenigen NEM, die gesundheitsbezogene Wirkungen beanspruchen, da für viele solcher Präparate entsprechende Health Claims (c) (s. Pkt. 3) noch nicht genehmigt wurden. Eine hierfür relevante sogenannte Gemeinschaftsliste ver- antwortet die Europäische Behörde für Lebensmittelsi- cherheit EFSA (European Food and Safety Authority).

Die Gesellschaft für Phytotherapie (GPT) plädiert im Interesse der Verbraucher für eine klare Abgrenzung von NEM gegenüber Arzneimitteln. Dies gilt insbesondere für Produkte, die pflanzliche Zubereitungen enthalten, sogenannte Botanicals (d). Die GPT als wissenschaftliche Fachorganisation spricht sich deshalb für die konsequente Umsetzung und Kontrolle des bestehenden Rechtsrahmens für NEM auf nationaler und europäischer Ebene aus, ins- besondere für die seit Jahren ausstehende Anwendung der Europäischen Health-Claims-Verordnung (EG Nr. 1924/2006). Sie schlägt ebenfalls mögliche Lösungen für die nachfolgend ausgeführten Probleme vor, da das seit 2006 von der EU anvisierte Regulierungsziel bisher keineswegs erreicht wurde. Diesen lange bekannten Mangel belegte erneut eine 2020 veröffentlichte Evaluation [12].

2. Nahrungsergänzungsmittel sehen meist wie Arzneimittel aus

Derzeit werden überwiegend NEM vertrieben, die durch ihre Aufmachung Arzneimitteln sehr ähnlich sehen. So ist es z. B. für Verbraucher und sogar für Fachleute oft schwierig, Botanicals von zugelassenen bzw. registrierten pflanzlichen Arzneimitteln zu unterscheiden. Die GPT fordert, dass NEM künftig durch eine Änderung der deutschen Nahrungsergänzungsmittel-Verordnung (NemV) deutli- cher als Produkte des Lebensmittelbereichs erkennbar sein müssen. Diese Verordnung legt fest, dass NEM „in Form von Kapseln, Pastillen, Tabletten, Pillen und anderen ähnlichen Darreichungsformen, Pulverbeuteln, Flüssigampullen, Flaschen mit Tropfeinsätzen und ähnlichen Darreichungsformen in den Verkehr gebracht“ werden (NemV, §1, Abs.3). Dies kann nach Auffassung der GPT zu relevanten Fehleinschätzungen der Leistungsfähigkeit von NEM und zu Verwechslungen mit Medikamenten führen. Rechtliche Grundlage für diese Forderung der GPT, die Si- cherheit der Verbraucher in den Vordergrund zu stellen, ist u. a. Artikel 7 der EU-Verordnung 1169/2011 Lauterkeit der Informationspraxis, in der eindeutig geregelt ist:
„Informationen über Lebensmittel dürfen nicht irreführend sein. Dies gilt auch für die Aufmachung von Lebensmitteln, insbesondere für ihre Form, ihr Aussehen oder ihre Verpackung, die verwendeten Verpackungsmaterialien, die Art ihrer Anordnung und den Rahmen ihrer Darbietung“.  Der Verzehr von NEM ist für Gesunde und für Menschen gedacht, die an der Erhaltung ihrer Gesundheit interessiert sind. Alle NEM sollten daher in ihrer äußeren Form, einschließlich der jeweiligen Verpackung, eindeutig als Lebensmittel erkennbar sein und nicht den Anschein von Arzneimitteln erwecken. Die Kennzeichnung als Lebensmittel sollte auf jeder Packung NEM eindeutig signalisieren, dass das Produkt kein Arzneimittel ist. Sie sollte zudem besonders hervorgehoben werden, denn bisher gehen vorhandene Kennzeichnungen als NEM häufig in weiteren Packungsbeschriftungen unter [19].

3. Health-Claims sind wissenschaftlich nicht ausreichend begründet

Mit gesundheitsbezogenen Angaben oder Angaben über die Reduzierung eines Krankheitsrisikos darf nach der europäischen Health-Claims-Verordnung (EG) Nr. 1924/2006 (HCVO) nur mit ausdrücklicher Genehmigung der Europäischen Kommission geworben werden. Diese müssen zudem von nährwertbezogenen Angaben abgegrenzt werden. In der sog. Gemeinschaftsliste im Anhang der HCVO sind knapp 500 geeignete Stoffe für Health-Claims gelistet, überwiegend Vitamine und Mineralien, Details s. [7]. Die europäische Verordnung fordert wissenschaftliche Belege für derartige gesundheitsbezogene Angaben. Sie können aus bekannten Daten abgeleitet oder für neu aufzu- nehmende Inhaltsstoffe, wie z. B. pflanzliche Extrakte, durch wissenschaftliche Prüfungen beigebracht werden. In-vitro-Prüfungen sind generell nicht ausreichend. Es bedarf zusätzlich aussagekräftiger In-vivo-Untersuchungen und Prüfungen am gesunden Menschen. Hierfür sind die jeweiligen Produkthersteller verantwortlich. Dadurch, dass wissenschaftliche Beurteilungen aufgrund der Untätigkeit der Europäischen Kommission seit 2010 ruhen, wird die Verordnung seit Jahren mit Hilfe der sogenannten On-Hold-Liste umgangen. So bleiben nicht autorisierte, gesundheitsbezogene Werbeaussagen für viele NEMs, insbesondere für Botanicals, unangreifbar in der Schwebe. Gleichwohl widersprechen sie dem Geist der HCVO deutlich. Der Deutsche Bundesrat hat daher die Bundesregierung im Februar 2021 aufgefordert, diesen Zustand in der Europäischen Kommission zu beenden [9]. Prüfungen, die dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaft entsprechen, sind bisher für Botanicals kaum durchgeführt worden. Die HCVO wird auch hier seit vielen Jahren nicht konsequent umgesetzt [5]. Die GPT fordert deshalb seit längerem, dass NEM nur dann einen gesundheitlichen Nutzen beanspruchen dürfen, wenn dieser auch nach abschließender wissenschaftlicher Prüfung seitens der EFSA positiv beurteilt wurde [2, 16].

4. Die Qualität von NEM ist oft problematisch

Analytische Untersuchungen zeigen, dass bei NEM vielfach deutliche Qualitätsprobleme bestehen. Eine produkt- und chargenbezogene Routineprüfung der NEM unter Verwendung aussagekräftiger und validierter analytischer Verfahren obliegt derzeit den jeweiligen Herstellern - wie im Lebensmittelrecht üblich - und wird nicht veröffentlicht. Anlässlich eigener Untersuchungen [15, 17], Veröffentlichungen der Lebensmittelüberwachung [3, 6] und anderer Quellen [10, 18, 22] ist jedoch zu vermuten, dass in der Praxis solche Produktanalysen von einigen Herstellern wenig sorgfältig durchgeführt oder nicht berücksichtigt werden, da die Ergebnisse teilweise besorgniserregend schlecht ausfallen. Obwohl bereits 2007 der Europäische Verband der Hersteller von Gesundheitsprodukten (EHPM) den ersten paneuropäischen Qualitätsleitfaden entwickelt hat (aktualisiert in der 2. Auflage 2014 [13], reichen die sehr häufig auftretenden Qualitätsmängel von fehlerhaften Gehaltswerten über Kontaminationen bis hin zu Inhaltsstoffen, die nicht nachweisbar sind, ob- wohl sie auf dem Etikett deklariert werden [18]. Die GPT fordert daher zum Schutz der Verbraucher eine transparentere und deutlich intensivierte Qualitätsprüfung von NEM im Markt durch die nationalen Lebensmittelüberwachungsbehörden [2] oder staatlich autorisierte sogenannte Benannte Stellen analog dem Medizinproduktegesetz [8]. Außerdem sollte durch überprüfbare Analysen mit validierten Verfahren sichergestellt werden, dass die Qualitätskontrollen der Hersteller routinemäßig und chargenweise durchgeführt werden und damit eine sichere Datengrundlage für die Produktqualität bieten. NEM, die nach Überprüfung die o. a. Mängel aufweisen, dürfen nicht mehr in den Verkehr gebracht werden!

5. Zusätzliche Maßnahmen verbessern Qualität und Anwendungssicherheit von NEM

Sollten trotz verschärfter Überwachung der analytischen Qualitätsprüfung und systematischer wie auch stichprobenartiger Überwachung der im Markt befindlichen NEM innerhalb einer angemessenen Frist keine substanziellen Verbesserungen eintreten, erscheinen der GPT intensivere Maßnahmen gegenüber den Produzenten bzw. Vertrieben angebracht. Diese könnten umfassen:

  • Anlage eines öffentlich zugänglichen Registers der Prüfungsergebnisse unabhängiger Prüflabore über die Produktqualität von NEM vor dem Vertrieb. Die Untersuchungskosten tragen wie bisher die Hersteller, zzgl. der Aufwendungen für das Register;
  • Zulassungspflicht von NEM, z. B. entsprechend der Europäischen Verordnung 2015/2283 über neuartige Lebensmittel [11];
  • Vertriebsuntersagungen von Produkten bzw. auch ganzer Produktlinien, wenn Hersteller wiederholt problematische NEM in den Markt bringen;
  • Anwendung einer sogenannten Nutrivigilanz gemäß der französischen Agence Nationale de Sécurité Nationale Sanitaire de l’Alimentation [20].

Die GPT intendiert, dass mit diesen Regularien die vom Marktgeschehen benutzte Ähnlichkeit von Arzneimitteln und NEM bald der Vergangenheit angehört. NEM mit Health-Claims werden als gesundheitsfördernde Lebensmittel präzise deklariert und daher besser erkennbar sein. Eindeutige Qualitätskriterien wie z. B. Identität der Inhaltsstoffe und deklarierte Gehalte werden kontrolliert sein. Zugelassene oder registrierte Arzneimittel, insbesondere pflanzliche Medikamente, unterscheiden sich wieder deutlicher von NEM. Probleme wie werbeabhängige Fehleinschätzung, Fehlernährung, Überdosierungen oder Interaktionen mit Medikamenten [14] werden zukünftig seltener im Zusammenhang mit NEM auftreten.

Literatur

1. apotheke adhoc. https://m.apotheke-adhoc.de/nc/ nachrichten/detail/pta-live/verbraucherzentrale-magnesi- um-ueberdosiert-nahrungsergaenzungsmittel/ Accessed 6 January 2021
2. Armbrüster N. Health Claims für Lebensmittel – was geschieht mit den Botanicals? Z Phytother 2020; 41: 286–289. doi:10.1055/a-0918-9773
3. Bayrisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit. Lebensmittelüberwachung in Bayern. https://www. lgl.bayern.de/lebensmittel/ueberwachung/index.htm Accessed 27 May 2021
4. BfR-Forum Verbraucherschutz „Nahrungsergänzungsmittel“ am 10. und 11. Oktober 2012. https://www.bfr.bund.de/de/
5. Bilia AR, MdC Costa. Medicinal plants and their preparations in the European market: Why has the harmonization failed? The cases of St. John’s wort, valerian, ginkgo, ginseng, and green tea. Phytomedicine 2021; 81: 153421. doi:10.1016/j. phymed.2020.153421
6. Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicher- heit. Berichte zur Lebensmittelsicherheit: Monitoring 2019. BVL-Report 15.3. https://www.bvl.bund.de/SharedDocs/ Berichte/01_LM_Monitoring/2019_lm_monitoring_bericht. html. Accessed 27 May 2021
7. Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicher- heit. Nährwert-und gesundheitsbezogene Angaben über Lebensmittel (Health Claims). https://www.bvl.bund.de/DE/ Arbeitsbereiche/01_Lebensmittel/04_AntragstellerUnter- nehmen/01_HealthClaims/lm_healthClaims_node.html.
Accessed 25 May 2021
8. Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. Benannte Stellen. https://www.dimdi.de/dynamic/de/ medizinprodukte/institutionen/benannte-stellen/index.html. Accessed 22 June 2021
9. Bundesrat der Bundesrepublik Deutschland. Entschließung des Bundesrates -Umsetzung der Health Claims Verordnung - ausstehende Bewertung gesundheitsbezogener Aussagen zu pflanzlichen Stoffen durch die EU: Antrag des Landes Baden-Württemberg. https://www.bundesrat.de/SharedDocs/TO/1000/erl/15.pdf?__blob=publicationFile&v=1. Zugriff am 26. Mai 2021.
10. Costa JG, Vidovic B, Saraiva N et al. Contaminants: a dark side of food supplements? Free Radical Research 2019; 53: 1113–1135. doi:10.1080/10715762.2019.1636045
11. Europäische Union. Verordnung (EU) 2015/2283 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2015 über neuartige Lebensmittel
12. European Commission. Evaluation of the Regulation on Nutrition and Health Claims. 2020. https://ec.europa.eu/ food/safety/labelling_nutrition/claims/refit_en. Zugriff am 26. Mai 2021
13. European Federation of Association of Health Products Manufacturers. Quality Guide. www.eisd.pl/files/quality-guide-ehpm.pdf. Zugriff am 27 Mai 2021
14. European Scientific Cooperative on Phytotherapy. Table of herb-drug interactions based on the monographs of ESCOP. 2021; https://escop.com/interactions/
15. Gaspar DP, Lechtenberg M, Hensel A. Quality assessment of bilberry fruits (Vaccinium myrtillus) and bilberry-containing dietary supplements. J Agric Food Chem 2021; 69: 2213–2225. doi:10.1021/acs.jafc.0c07784
16. Kraft K. Position statement on the evaluation of health claims on foods and food supplements containing plants and their preparations. Phytomedicine 2016; 23: 1853. doi:10.1016/j.phymed.2016.11.004
17. Lechtenberg M, Hensel A. Determination of glucosinolates in broccoli-based dietary supplements by cyclodextrin-mediated capillary zone electrophoresis. J Food Compos Anal 2019; 78: 138–149. doi:10.1016/j.jfca.2019.02.007
18. Meins, J., Artaria, C., Riva, A., Morazzoni, P., Schubert-Zsilavecz, M., Abdel-Tawab, M., 2016. Survey on the Quality of the Top-Selling European and American Botanical Dietary Supplements Containing Boswellic Acids. Planta Medica 82, 573-579. 10.1055/s-0042-103497.
19. Raynor DK, Dickinson R, Knapp P et al. Buyer beware? Does the information provided with herbal products available over the counter enable safe use? BMC Medicine 2011; 9: 94. doi:10.1186/1741-7015-9-94

20. République Française – ANSES, 2021. Everything you need to know about the nutrivigilance scheme. https://www.anses. fr/en/content/everything-you-need-know-about-nutrivigilance-scheme
21. Schwingshackl L, Boeing H, Stelmach-Mardas M et al. Dietary supplements and risk of cause-specific death, cardiovascular disease, and cancer: a systematic review and meta-analysis of primary prevention trials. Advances in Nutrition 2017; 8: 27–39. doi:10.3945/an.116.013516
22. Sogame M, Naraki Y, Sasaki T et al. Quality assessment of medicinal product and dietary supplements containing Vitex agnus-castus by HPLC fingerprint and quantitative analyses. Chem Pharm Bull 2019; 67: 527–533. doi:10.1248/cpb.
c18-00725
23. Statista. Umsatz mit Nahrungsergänzungsmitteln in Deutschland in den Jahren 2014 bis 2018. https://de. statista.com/statistik/daten/studie/1040811/umfrage/ umsatz-mit-nahrungsergaenzungsmitteln-in-deutschland.
Accessed 26 May 2021
24. Verbraucherzentrale NRW e.V. Nahrungsergänzungsmittel endlich regulieren.https://www.klartext-nahrungsergaen- zung.de. Accessed 22 June 2021

25. Weißenborn A, Bakhiya N, Demuth I et al. Höchstmengen für Vitamine und Mineralstoffe in Nahrungsergänzungsmitteln. Journal of Consumer Protection and Food Safety 2018; 13: 25–39. doi:10.1007/s00003-017-1140-y

26. Wheatley VM, Spink J. Defining the public health threat of dietary supplement fraud. Compr Rev Food Sci Food Safety 2013; 12: 599–613. doi:10.1111/1541-4337.12033
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(a) Nahrungsergänzungsmittel sind Lebensmittel zur Ergänzung der allgemeinen Ernährung

(b) Wir verwenden die bisher übliche Schreibweise, welche Menschen jeden Geschlechts einbezieht

(c) Health-Claims sind gesundheitsbezogene Angaben zu Nahrungs- ergänzungsmitteln, die einen Zusammenhang zwischen einem Lebensmittel und der Gesundheit beschreiben

(d) Botanicals sind Nahrungsergänzungsmittel, für welche pflanzliche Inhaltsstoffe deklariert werden